Kleine Orgelbaukunde

Prof. Dr. Karl-Jürgen Kemmelmeyer hat uns zur Geschichte der Kirche und ihrer Orgeln in der der St.-Andreas-Kirche Lübbecke einen längeren Forschungsbeitrag verfasst. Die originale Fassung (Stand Juni 2018), die alle Quellen- und Bildnachweise sowie viele Bilder und Erläuterungen zu Orgeln enthält, finden Sie hier als Pdf-Datei. Vielleicht ist dieser Beitrag auch für Sie eine Anregung, das Orgelbaumuseum in Borgentreich einmal zu besuchen und einige der im Beitrag genannten Orgeln zu sehen und zu hören.

Einen Auszug aus dem Forschungsbeitrag finden Sie nachfolgend. Die kleine Orgelbaukunde erläutert Grundlagen und die Entwicklungen der Technologie beim Bau der „Königin der Instrumente“. Sie bezieht sich auch auf die Orgeln der St.-Andreas-Kirche. (Alle Bild- und Quellenangaben im Hauptbeitrag.)

Kleine Orgelbaukunde

Norddeutschland – Land der Tastenvirtuosität und der Orgeln

Die Entwicklung der Virtuosität auf Tasteninstrumenten steht in enger Verbindung mit dem technischen Fortschritt im Instrumentenbau. Dabei spielen England, die Niederlande und besonders Norddeutschland bei Tasteninstrumenten eine wichtige Rolle.

Der ständige Wechselbezug zwischen Musikerfindung (Komposition, Spieltechnik) und technischem Fortschritt im Instrumentenbau wirkt sich im Orgelbau ab dem ausgehenden 16. Jahrhundert und besonders im 17. Jahrhunderts aus, in dem es in Norddeutschland und in Westfalen trotz Krieg nicht nur einen „Orgelbau-Boom“ mit großen technischem Fortschritten und neuer Vielseitigkeit der Register-Klangfarben gab, sondern in dem sich auch die Städte mit immer größeren Orgelwerken zu übertrumpfen suchten, da nun Orgelvirtuosen dank Sweelinck und seiner Schüler und Enkel-Schüler tätig wurden, die mit diesen Wunderwerken nie gehörte Musikerlebnisse vermitteln konnten. Der in Amsterdam lebende Komponist, Orgel- und Cembalo-Virtuose Jan Pieterszoon Sweelinck (1562-1621) hatte mit seinen Ricercaren, Toccaten und Fantasien einen virtuosen Stil des Orgelspiels mit neuer Spieltechnik entwickelt, der nun auch den Füßen der Organisten Beweglichkeit abverlangte. Sweelinck war so berühmt, dass die Ratsherren größerer Städte ihre jungen Organisten nach Amsterdam zum Studium entsandten, um nach deren Rückkehr auch etwas von dieser Kunst hören zu können. Die Schüler entwickelten Sweelincks Stil und Spieltechnik weiter und wurden zu prägenden Gestaltern des norddeutschen Musiklebens, insbesondere der Kirchenmusik. Johann Sebastian Bach (1685-1750) kam später zum Studium nach Norddeutschland, um bei der nachfolgenden Generation der Organisten in Lüneburg, Hamburg und Lübeck zu lernen. Er brachte den „norddeutschen Stil“ in der Orgelmusik zu einem neuen virtuosen Höhepunkt.

Besonders einflussreich in dieser Entwicklung waren die protestantischen Kirchen, die der Orgelmusik in der Gottesdienstgestaltung eine eigenständige, kunstvolle Verkündigungsaufgabe einräumten: choralgebundene Vorspiele, Choralfantasien, Präludien und Fugen als Vor- und Nachspiele. Die evangelische Kirchenmusik verselbständige sich später in der gesellschaftlich bedeutenden Veranstaltungsform des Geistlichen Konzerts, deren Höhepunkt die ab 1673 als „Abendmusik“ bezeichneten Konzerte an St. Marien in Lübeck waren. Dieterich Buxtehude (1637-1707), Bachs Vorbild, setzte hierbei Orgel, Chor und Orchester ein und spielte selbst seine virtuosen Orgelwerke.

Da Orgeln immer ein Produkt der Hochtechnologie waren – mechanisch im Barockzeitalter, pneumatisch im 19. Jahrhundert, elektrisch im 20. Jahrhundert und elektronisch im 21. Jahrhundert – kam es zu vielen Neubauten und zur Vernichtung älterer Orgelwerke, von denen nur die Prospekte, die Gehäuse überdauerten, wenn sie als besonders kunstvoll, ästhetisch gelungen und wertvoll empfunden wurden. Das war z. B. in Celle und 1904 in Lübbecke der Fall, wobei in Lübbecke sicherlich die brandenburgisch-preußischen Adler am Orgelgehäuse mit zur Erhaltung beigetragen haben, denn Lübbecke war seit Ende des Dreißigjährigen Krieges preußisch und protestantisch geprägt.

Technologie-Transfer

Der Orgelbauer Cord Krüger (Kröger) aus Minden, mit dem die Stadt Lübbecke 1628 einen Kontrakt zum Bau einer zweimanualigen Orgel mit Pedal von 21 Registern schloss und deren Gehäuse in der St.-Andreas-Kirche erhalten ist, hatte vermutlich bei der aus den Niederlanden stammenden Orgelbauerfamilie Bader sein Handwerk gelernt. Er baute ab 1634 später in Oldenburg St. Lamberti die damals größte Orgel im norddeutschen Küstenraum, die leider nicht erhalten ist. Es war ein Instrument, das erst durch die Orgelgroßbauten von Arp Schnitger in Hamburg übertroffen wurde. Erst vor kurzer Zeit wurde entdeckt, welch bedeutende Rolle Cord Krüger, über den heute kaum etwas bekannt ist, in der Entwicklung des norddeutschen Orgelbaus einnahm. Orgelbauwissen wurde vom Meister an seine Gesellen weitergegeben; der Meistergeselle nahm in der Regel die Intonation der Pfeifen vor und vertrat den „Chef“ auswärts beim Aufbau der Orgeln und Beaufsichtigen der Gesellen. Von Cord Krüger führt eine direkte Verbindung im Technologie-Transfer zu Arp Schnitger, dem damals wie heute berühmtesten norddeutschen Orgelbauer, der mit seinen Instrumenten das Vorbild für die „Orgelbewegung“ im 20. Jh. gab, die die barocken Orgeln wieder zum Vorbild erkor.

Cord und Hermann Krüger (Kröger) hatten bereits versucht, bei ihren Dispositionen ein selbständiges Pedal und die Eigenständigkeit der Werke (Manuale, Pedal) zu verwirklichen: pro Werk möglichst Prinzipalchor gegenüber Flötenchor als Klangfarbengruppen zu disponieren, eine Aufhellung beim Manualwechsel von Hauptwerk über Rückpositiv hin zum Brustwerk zu erreichen und zusätzlich Aliquoten und Zungenregister für das Trio-Spiel bereitzustellen. Diese Konzeption finden wir in den großen Orgeln Schnitgers in Perfektion realisiert. Technologietransfer in Norddeutschland – die Genealogie (mit Angabe einiger noch erhaltener Orgeln):

  • Cord Kröger (um 1600-1641?) – sein Meistergeselle: Hermann Kröger (Lübbecke St. Andreas, um 1635, Prospekt erhalten)
  • Hermann Kröger (um ? -671) – sein Meistergeselle: Berendt Hus (u. a. Berne St. Aegidius, 1642, Prospekt und einige Pfeifen erhalten; Langwarden/Butjadingen St. Laurentius, II P 21, 1650, fast original erhalten; Celle Stadtkirche St. Marien 1653, Prospekt und Prospektpfeifen erhalten)
  • Berendt Hus (um 1630-1676) – sein Meistergeselle: Arp Schnitger (u.a. Stade St. Cosmae & Damiani, III P 42, 1688, sehr guter Erhaltungszustand)
  • Arp Schnitger (1648-1719) – (u. a. Hamburg St. Jakobi, IV P 60, 1693)

A  Das Pfeifenwerk

Im Orgelbau kennt man zwei Pfeifentypen: die Lippenpfeifen (Labiale, Abb. 1) und die Zungenpfeifen (Linguale, Abb. 2). Wie bei allen mechanisch akustischen Instrumenten geht es hierbei um den Generator, d. h. den Schwingungserzeuger, und den Resonator, d. h. die Klangverstärkung, die Einfluss auf die Teiltonanteile im Klang einer Pfeife hat.

Bei Labial-Pfeifen besteht der Generator aus einem Luftblatt, das im Fuß der Pfeife mittels Kernspalte und Unterlabium gebildet wird und auf eine Kante, das Oberlabium, trifft. Das Luftblatt wird abgelenkt und schwingt in den Pfeifenkörper (Resonator) hinein: dadurch entsteht in der Pfeife ein Überdruck, der das Luftblatt wieder nach außen stößt; entsprechend entsteht nun ein Unterdruck in der Pfeife, der das Luftblatt wieder nach innen zieht.

Es ist die Kunst des Intonateurs, Kernspalte und Oberlabium in die rechte Position zu bringen, damit dieser Schwingungsvorgang ungestört abläuft. Die Tonhöhe ist abhängig von der Länge des Pfeifenkörpers ab Kernspalte, auch das Verhältnis von Länge zur Breite (Mensur) spielt ebenso eine Rolle wie auch, ob die Pfeife oben geschlossen (gedackt) oder mit einem kleinen Röhrchen (halbgedackt) versehen ist: So klingt eine gedackte Pfeife von 8‘ Länge wie eine offene von 16‘ Länge, d. h. eine Oktave tiefer. Einfluss auf die Klangfarbe haben das Verhältnis von Länge und Breite des Pfeifenkörpers und die Form bzw. Bauart des Pfeifenköpers (Abb. 3), aber auch das Material selbst. Gold wäre ideal, weil es schwingungsarm ist. Reines Blei als dickes Blech für den Pfeifenkörper war billiger als Gold, hatte jedoch ähnliche Eigenschaften und ließ sich gut formen; die Pfeifen – besonders die schweren 16‘-Prinzipale – wurden jedoch durch die Bleioxydation der Jahrhunderte allmählich standschwach, sodass die Orgelbauer Blei mit Zinn zu einer Legierung verbanden, die härter war. Cord Kröger verwendete 1628 für die Pfeifen der Lübbecker Orgel dickwandige Blei-Bleche. Immerhin funktionierte diese Orgel bis um 1900. Abb. 1 zeigt den Bau einer Rohrflöte.

Bei Lingual-Pfeifen (Zungen-Pfeifen, Abb. 2) ist der Generator so gebaut, dass der Luftstrom ähnlich wie bei den Stimmlippen im menschlichen Kehlkopf periodisch unterbrochen wird: Im Pfeifenfuß befindet sich die Kehle, ein seitlich geöffnetes Rohr (oft aus Messing), auf dem eine leicht an einem Ende aufgebogene, dünne und schmale Feder (meist aus Messing) aufliegt. Sie ist mit einem kleinen Keil befestigt. Dringt der Luftstrom in den Pfeifenfuß ein, so entweicht er durch die Kehle in den Becher: dabei reißt er die Feder auf die Kehle, sodass der Luftstrom unterbrochen wird. Durch die Spannung (wegen der leichten Biegung) bewegt sich die die Feder wieder zurück und gibt erneut den Luftstrom frei, sodass alles wieder von vorn beginnt. Gestimmt werden diese Pfeifen mit der Stimmkrücke, mit der man die Länge der Feder verändern kann. Als Resonator treten die Becher in Funktion: Die Form der Becher ist sehr vielseitig (Abb. 3) und bestimmt wesentlich den Klang.

Auf Abb. 3 sind auch die Partialtöne und ihre Fuß-Bezeichnungen (d. h. in etwa die Länge der offenen Prinzipal-Pfeife) angegeben: ein Fuß = ca. 30 cm. Beim tiefsten Ton C eines Prinzipal 32‘ ergibt sich also eine Pfeifenlänge von ca. 9,60 Metern. Die Partialtöne können wir als ein Naturgesetz ansehen, sie sind in jedem Pfeifenklang (Klangspektrum) gegenwärtig, aber pro Partialton unterschiedlich in ihrer Lautstärke, was aus der Pfeifenbauart resultiert. Jedes Register (= Pfeifen gleicher Bauart) hat so seine eigene Klangfarbe. Man kann aber auch die Partialtonreihe künstlich durch Pfeifen „nachbauen“, für jeden Partialton eine eigene Pfeife – und genau das ist das Prinzip der Orgel.

Die individuelle Kunst der Orgelbauer bestand darin, angepasst auf die Raumakustik Pfeifen bzw. Register mit variablen Mensuren (Abb. 4) zu bauen, den Klang per Intonation am Labium zu bestimmen und die Lautstärke jeder Pfeife so anzupassen, dass keine in der Pfeifenreihe des Registers „vorlaut“ wird.

B Das Regierwerk

Der Sammelbegriff bezeichnet alle technischen Vorrichtungen, die dazu dienen, dass die Pfeifen zum Klingen gebracht werden. Dazu gehören am Spieltisch (Abb. 5-6) für die Töne Manual- und Pedaltasten, für die Register (Pfeifenreihen) die einzelnen Registerzüge, für die einzelnen Werke in der Orgel (z. B. Hauptwerk, Rückpositiv, Schwellwerk, Brustwerk, Pedal) die Manuale und die Pe-dalklaviatur. Weiterhin gibt es noch die Koppeln, mit denen die Tasten eines Manuals oder der Pe-dalklaviatur mit denen eines anderen Manuals verbunden werden können, d. h. spielt man eine Taste, so wird die gleiche auf dem angekoppelten Manual mitgespielt. Das Schwellpedal des Spieltisches öffnet im Schwellkasten, in dem die Pfeifen des Schwellwerks stehen, Jalousien, sodass der Klang ohne Klangfarbenänderung lauter oder leiser wird. Dann gibt es noch die Crescendo-Walze, mit der man mit dem Fuß die Register vom piano bis zum forte fortissimo nacheinander einschalten kann. Andere Knöpfe, die Setzer-Kombinationen, helfen dabei, die Registerkombinationen zu speichern und mit einem Knopfdruck wieder abzurufen.

Die Verbindung all dieser Tasten, Züge, Pedale, Schalter etc. zur Lade erfolgt je nach Bauweise rein mechanisch, pneumatisch, elektrisch oder per MIDI (Musical Instrument Digital Interface), also mit Computertechnologie. Das Wissen jeder technischen Epoche fand auch im Orgelbau seine Anwendung. Heute baut man gern wegen des guten Spielgefühls eine mechanische Traktur (= Verbindung zwischen Taste und Tonventil) – Organisten lieben „den direkten Draht zum Tonventil“ – und wegen der bequemen Speicherung der Registerkombinationen und ihrer schnellen Abrufbarkeit elektromechanische Registersteuerung mit digitaler Speicherungstechnik.

Jedes Werk (Hauptwerk, Brustwerk, Pedal etc.) hat seine Lade: Auf ihr stehen die Pfeifen (Abb. 7 und 9). Die Orgelbauer verwendeten dazu verschiedene Bautechniken – in den Lübbecker Orgeln kamen die mechanische Springlade (Abb. 10-12), die mechanische Schleiflade (Abb. 13-15) und die pneumatische Registerkanzellen-Lade (Abb. 19-20) zum Einsatz. Bei mechanischem Regierwerk stellen Tasten-Hebel, achsgelagerte Winkel, Abstrakten (Zugleisten) und das Wellenbrett (Abb. 7) die Verbindung zum Tonventil her. Registerzüge bestehen aus Stangen, Wippen („Schwertern“) und Hebeln zum Einschalten der Register.

Springladen- und Schleifladen-Orgeln besitzen eine mit Winddruck gefüllte Windkammer, ein unter der Lade verlaufender Kanal, an dessen Decke sich für jeden Ton des zugehörigen Manuals oder Pedals Ventile befinden (Abb. 8): Es sind Klappen, die durch die Abstrakten aufgezogen werden – drückt man z. B. auf dem Manual den „Ton d“, so zieht die Abstrakte in der Windkammer das Ventil „Ton d“ auf, und der Wind strömt in die Tonkanzelle des „Ton d“. Jeder Ton des Manuals oder Pedals hat seine eigene Tonkanzelle: auf ihr stehen pro Ton zugeordnet alle auf der Lade aufgestellten Register, deren Pfeifen ein Pfeifenstock aufrecht hält.

Nun würde ja, wenn der „Ton d“ gedrückt wird, bei allen Registern dieser Lade zugleich der „Ton d“ ertönen – und das ist ja nicht beabsichtigt, denn man will ja jedes Register auch einzeln nutzen können. So kommen nun die Begriffe Springlade und Schleiflade ins Spiel, denn diese Systeme helfen dabei, dass jedes Register einzeln eingeschaltet werden kann.

Springlade

Die mechanische Springlade (Abb. 10-12) gehört mit zu den ältesten noch erhaltenen Bauweisen der Windladen. Damals konnte man noch nicht so präzise Holz bearbeiten wie wir heute mit modernen Säge- und Fräsmaschinen, die auf den Millimeter genau fertigen können. Und: Ein Problem waren Undichtigkeiten in der Lade, die durch Temperatureinwirkungen entstanden – der „falsche Wind“ schlich sich dann in Pfeifen, die leise heulten. Um das zu vermeiden entwickelte man das mit viel Aufwand zu bauende Springladen-System: Für jede Taste gab es in der Lade den zugehörigen Springer-Klotz (Abb. 11). Er war herausziehbar, durch Leder gedichtet und enthielt unter der zugehörigen Pfeife ein Klappen-Ventil. Zog man mit dem Registerknopf die Stecher-Leiste, auch Register-Leiste genannt, herunter (dazu musste der Registerknopf vom Organisten „eingehakt“ werden), so öffneten Stecher an der Stecher-Leiste die Ventile, und das Register war eingeschaltet. Wenn der Organist das Register wieder abschalten („abstoßen“) wollte, so musste er den Registerknopf nur hochdrücken, und die Spannung der Ventilfedern „schubste“ die Stecher-Leiste nach oben in die Null-Stellung, wobei sich auch der Registerknopf wie von Geisterhand wieder zurückzog. Dieses System verwendete Cord Krüger (Kröger) um 1635 in der Lübbecker Orgel – es war 1900 noch funktionsfähig in Betrieb.

Schleiflade

Die mechanische Schleiflade (Abb. 13-15) ist ebenfalls ein sehr altes System. Sie verdrängte bis Mitte des 18. Jahrhunderts die Springlade vollständig und ist heute zum Standard im Orgelbau geworden. Zunächst setzte man sie gern für das Brustwerk der Orgel ein, weil dort wenig Platz war – so auch in der Lübbecker Orgel von den Krögers um 1635 und später, beim Werkneubau durch Steinmann 1960 sogar für alle Werke: Hauptwerk. Brustwerk und Pedal. Bei der Schleifladen-Bauweise entfiel bei der Wartung das Herausziehen der Springer-Klötze, und gut gearbeitete mechanische Schleifladen sind praktisch wartungsfrei.

Das System hat seinen Namen von der Schleife, einem gelochten, verschiebbaren dünnen Brett, das quer zu den Tonkanzellen – also parallel mit der Windkammer – auf der gelochten oberen Seite der Lade aufliegt, sich zwischen Lade und Pfeifenstock befindet und genau unter allen Pfeifen eines Registers liegt. Wird mit dem Registerzug die Schleife so verschoben, dass der Wind aus der Tonkanzelle durch das Loch der Schleife in das Loch des Pfeifenstocks strömen kann, so erklingt der Ton des gewählten Registers. Da die Schleifen und ihre Umgebung früher durch Witterungseinflüsse auch schrumpften (Holz arbeitet!), gab es manchmal auch „falschen Wind“, wenn man eine Taste spielte. Um den „falschen Wind“ abzuleiten, schnitten die Orgelbauer in die Oberfläche der Lade kreuzweise Rillen, damit der „falsche Wind“ schnell nach außen und nicht in eine Pfeife gelangen konnte. Heute verwendet man sehr dünne Schleifen aus Hartholz oder modernen Werkstoffen, die von Teleskop-Hülsen, die passgenau auf den Löchern der Tonkanzelle aufgeleimt sind, nach oben an den Pfeifenstock gedrückt werden – es war das „Aus“ für den „falschen Wind“. Die Schleiflade war auch noch in anderer Hinsicht sehr praktisch: An die Schleife ließ sich ein elektromagnetisches Relais ankoppeln, das die Schleife bewegte. Im modernen Orgelbau lassen sich nun Register über die Elektrik ein- und ausschalten und auch speichern.

Im 19. Jahrhundert, in der Zeit der großen Sinfonie-Orchester und der aufkommenden Bedeutung der Klangfarbe in den Kompositionen, wollte auch der Orgelbau dieser Entwicklung folgen. Besondere Register wurden erfunden, die neue Klänge oder Klangmischen ermöglichten, die die Orgel nun in die Nähe des Sinfonie-Orchesters rückten – und dies als „Tastenorchester“, gespielt von zwei Händen und zwei Füßen! Die Orgeln wurden immer größer (Abb. 16-17), die Verbindung von der Taste zu der Lade immer länger, und durch die damit verbundene Schwergängigkeit war die gute alte mechanische Schleiflade so ziemlich am Ende ihrer Möglichkeiten angekommen, die Springlade sowieso.

Die Manuale hatten noch mechanische Schleifladen, aber schon Barker-Hebel (Abb. 18) zur Erleichterung des Spiels, die Pedale mechanische Kegelladen. Die pneumatische Registertraktur ermöglichte Gruppierungen von pp – ff (feste Kombinationen) und zugleich ein Crescendo.

Französisch-symphonischer Orgel-Typus. Mechanische Schleiflade und mechanische Traktur mit Barker-Hebel. Zur Erleichterung der Registrierung gab es am Spieltisch verschiedene, aus der französischen Registrier-Praxis erarbeitete Registerzusammenstellungen, die mittels kleiner Pedale oberhalb der Pedalklaviatur abgerufen werden konnten. Auf der Abbildung oben sieht man die senkrechten Jalousien des Schwellwerks (hier geschlossen). Cavaillé-Coll und Ladegast standen in freundschaftlicher Verbindung. Der Erbauer der Lübbecker Orgel 1904, Ernst Klaßmeyer, hatte bei Ladegast den Orgelbau gelernt.

Pneumatik – Barker-Hebel und Registerkanzellen

Die Orgelbauer ersannen nun neue Laden- und pneumatische Spiel-Systeme, die den Winddruck nutzten. Nun wurde zwischen Pfeifen-Wind (wie früher) und Arbeitswind (für die Pneumatik) unterschieden. Anstelle von Abstrakten stellte nun ein Bündel von dünnen Bleiröhrchen die Verbindung zwischen Taste bzw. Registerzug zur Lade her; die Spieltische waren nun die Schaltzentrale für die richtige Verteilung des Arbeitswind-Flusses. Ähnlich wie beim Barker-Hebel (Abb. 18) wurde der Spiel-Wind-Druck in den Röhrchen durch kleine Bälge in mechanische Bewegung umgesetzt, z.B. zum Öffnen oder Schließen von Ventilen in der Lade.

Ähnlich wie die Servo-Steuerung bei der Lenkung im Auto half hier der Winddruck beim Ziehen der Abstrakten. Wenn die Abstrakte (links) von der Taste aus gezogen wurde, so öffnete sie ein Ventil, das Luft in einen Balg ließ, der sich sofort aufblähte und die Abstrakte (rechts) zog. Ließ man die Taste los, fiel der Balg sofort in sich zusammen.

Für das Bewegen von Schleifen war der Arbeitswind-Druck zu schwach. Darum musste ein neues Laden-System erfunden werden. In die Lübbecker Orgel baute Klaßmeier 1904 die pneumatische Kegellade mit Register-Kanzellen ein, ein System, das zwar mehr Platz als die Schleiflade benötigte, aber damals sehr modern war, weil es ein schnelles Registrieren und eine leichte Spielbarkeit (geringer Tastendruck) ermöglichte. Die Tonkanzelle entfällt: Die Ventile sitzen nun in der mit Winddruck gefüllten Registerkanzelle direkt unter den Pfeifen. Darum hört man auch beim Drücken nur einer Taste das „Klackern“ der vielen Ventile, selbst wenn kein Register eingeschaltet ist.

Da bei Kegelladenbauweise mit vielen Registern pro Manual oder Pedal jede Taste so viele Ventile öffnen muss wie die Anzahl der Register auf der Lade (daher auch das „Klackern“!), blieb der Tastendruck zwar leicht, aber es ergaben sich Verzögerungen zwischen dem Anschlag der Taste und dem tatsächlichen Ansprechen bzw. Erklingen der Pfeifen. Gegenüber der mechanischen Traktur, bei der Organisten vom Finger aus das Öffnen des Tonventils „im Griff haben“, wirkten die pneumatisch gesteuerten Orgeln indirekt, verlangsamt und weniger geeignet für eine „luftige“ Artikulation des Spiels. Das war auch bei der von Klaßmeier 1904 in Lübbecke gebauten Orgel der Fall. Die Orgelkompositionen der Romantik im 19. Jh. legten Wert auf den Reiz vieler Klangfarben – u. a. langsame Akkordfolgen, flächige Figuren, Auf- und Abschwellen des Gesamtklanges mittels Schwellwerk und Crescendo-Walze sowie schnelle Wechsel von Registerkombinationen. Ein strenges Legato-Spiel war dabei Grundlage. Dafür waren die pneumatischen Orgeln gut geeignet.

Viele Orgelbauer tüftelten an einer Verbesserung, und es gab verschiedene Systeme, um die Zeitverzögerung zu vermeiden. Eines davon war die Elektrifizierung: die Taste löste einen elektrischen Impuls aus, der einen Magneten ansprach und der dann das Ventil in der Kegellade aufzog. Die Verzögerung war nun weitgehend verschwunden, aber das ruckartige Öffnen des Tonventils durch den Magneten ließ immer noch nicht die gewünschte feine Artikulation im Spiel zu.

So besannen sich die Orgelbauer ab der zweiten Hälfte des 20. Jh. wieder auf die mechanische Schleiflade aus der Barockzeit, deren Mechanik sie nun mit verfeinerten Methoden der Materialwahl und nie vorher dagewesener präziser Fertigungstechnik perfektionierten. Die Fortschritte der Elektrifizierung nutzten sie weiter für die Registersteuerung und digitale Speicherung, die schnelle Registerwechsel möglich machen. Selbst große Dom-Orgeln mit vier Manualen lassen sich heute leicht und mit lebendiger Artikulation spielen.

C Das Windwerk

„Das erste, was er [J. S. Bach] bey einer Orgelprobe that, war dieses: Er sagte zum Spaß, vor allen Dingen muß ich wißen, ob die Orgel eine gute Lunge hat, um dieses zu erforschen, zog er alles Klingende an, u. spielte so vollstimmig, als möglich. Hier wurden die Orgelbauer oft für Schrecken ganz blaß.“ [C. P. E. Bach: Brief aus dem Jahr 1774 an J. N. Forkel in Göttingen als Nachtrag zum Nekrolog zu J. S. Bach in L. Mizlers Musikalischer Bibliothek. Leipzig 1754]

Johann Sebastian Bach (1685-1750) galt nicht nur als ein virtuoser Organist, sondern auch als ein gefragter und von den Orgelbauern gefürchteter Experte in Orgelfragen. Das Zitat verdeutlicht, wo-rauf es beim Windwerk ankommt: genügend Luftvolumen und gleichmäßigen Winddruck, auch wenn viele Pfeifen erklingen. Früher hatten alte Orgeln damit oft ihre Probleme, denn sie waren „windstößig“, d. h. der Luftdruck nahm bei vollgriffigen Akkorden mit vielen Registern kurzfristig ab, was sich als ein Absinken der Tonhöhe („heulen“) unangenehm bemerkbar machte. Bis zur Einführung des elektrischen Schleuder- oder Radialgebläses um 1900 war es eine schweißtreibende Arbeit, wenn die Orgel erklingen sollte, und das Üben an der Orgel war für die Organisten auch eher selten möglich. Sie mussten sich z. B. mit einem Pedal-Cembalo zuhause begnügen – und: vermutlich haben sie nicht so virtuos und perfekt gespielt, wie wir das heute von perfektionierte Tonaufnahmen und virtuosen Organistinnen und Organisten gewohnt sind, die ein kirchenmusikalische Studium absolviert haben. .

(Überlieferung durch Michael Praetorius: De Organographia. Wolfenbüttel 1619). Die Bälgetreter nannte man Kalkanten. Ein Zug an der Orgel löste ein Glöckchen aus, dann hieß es „Treten, treten, treten …!

Zum Messen des Windrucks erfand der Orgelbauer Christian Förner (1609-1678) um 1660 die Windwaage (Abb. 22). Der Winddruck wird in Millimeter Wassersäule gemessen.

Musste beim Schöpfbalg (Weg des Windes blau), von denen es mindestens 2-4, aber auch bis zu 10 je nach Größe der Orgel gab, noch sehr gefühlvoll getreten und sorgfältig beobachtet werden, dass die obere Platte des mit Steinen beschwerten Magazinbalg nicht zu tief absank, so bot der Weg des Windes vom elektrischen Gebläse bis zur Windkammer (Weg des Windes schwarz) nun große Vorteile: Wenn bei vollgriffigen Akkorden und vielen gezogenen Registern plötzlich viel Wind benötigt wurde, glich der Schwimmerplattenbalg dies zunächst aus, und zugleich öffnete sich der Schieber, um mehr Wind in den Magazinbalg zu lassen – ein sich selbst regelndes System.

Der Tremulant ist eine Vorrichtung, der den Orgelton ähnlich dem Vibrato einer Menschenstimme schwingen lässt. Gegenüber früher, wo ein Stecherventil an der oberen Platte des Magazinbalges stoßweise Luft aus dem Magazinbalg entließ (und damit die obere Platte zum Schwingen brachte), arbeitet das moderne System so schnell und druckkonstant, dass die Orgelbauer eine neue Lösung für einen wirksamen Tremulanten bauen mussten: Ein sogenannter „Wagnerscher Hammer“ (wie bei der alten elektrischen Haustürklingel), ein elektrischer Magnet, wird an der Schwimmerplatte des Balges unter der Windkammer angebracht und zieht die Platte (Strom fließt) an oder lässt sie los (Strom aus), wenn der Tremulant eingeschaltet wird – die Platte schwingt. Mittels eines regelbaren elektrischen Widerstandes lässt sich heute sogar die Frequenz des Tremulanten regeln.

Ein Rückblick

Frühe kleine Orgeln kennen wir schon u.a. aus Pompeji, die vor 2000 Jahren in den weltlichen Amphitheatern gespielt wurden – auch Fan-Button in Form von Münzen, die den Organisten priesen, wurden gefunden. Am byzantinischen Kaiserhof spielte man bei hohen Zeremonien auch auf Orgeln. Byzantinische Gesandtschaften des Kaiserhofes brachten 757 für den fränkischen König Pippin den Jüngeren und 812 für den König und Kaiser Karl den Großen Orgeln als Staatsgeschenk mit. Angeblich bestanden die Pfeifen aus Gold (was ja auch das beste Pfeifenmaterial wegen seiner Dauerhaftigkeit und Eigenschwingungsarmut ist), und das unbekannte kostbare Instrument überließ man gelehrten Mönchen zur Erforschung und stellte es wegen seines Wertes erst einmal in die Kirche, wo es auch heute hauptsächlich ihren Platz hat. 826 ließ Kaiser Ludwig der Fromme bereits für Aachen eine Orgel bauen – es war wohl der Start für den Orgelbau in Westeuropa. Vom 9.-13. Jh. gab es in den großen Kathedralen Europas zunehmend mehr Orgeln, die auch bei der Kunst des Organum-Singens mit eingesetzt wurden. Konnte man früher wie in Halberstadt (Abb. 21) nur eine Pfeifenreihe solo (den Prinzipal) oder alle Pfeifenreihen zusammen (Blockwerk) spielen, so gab es bald mit Erfindung der Schleiflade und Springlade im 14.-15. Jh. ganz neue Möglichkeiten, die Farben einzelner Pfeifenreihen (Register) gezielt für den künstlerischen Ausdruck einzusetzen.

Es ist schon faszinierend, wie die Kunst des Orgelbaus in den Jahrhunderten ihren Fortschritt nahm und wie viele erfindungsreiche Handwerksmeister die Orgel zu dem kompliziertesten und größten Instrument entwickelten, das die Menschheit kennt.