Zehn Kühe für eine Orgel
Exkursion 2023 führte in die Krummhörn (Ostfriesland)
Während sich die geographische Landschaft eher gleichförmig und karg präsentiert, zeigt sich an anderer Stelle ein auffälliger Reichtum. Die Welt der Orgeln zwischen Emden und Nordseeküste zeichnet sich seit Jahrhunderten durch einen großen Schatz an Instrumenten aus, die schon in den kleinsten Kirchen in erstaunlicher Vielfalt zu finden sind.
Diese reichhaltige Orgellandschaft war Ziel der diesjährigen Orgeltour, die wieder gemeinsam vom Lübbecker Kirch- und Orgelbauverein und dem Orgelförderverein aus Espelkamp (Christoph Heuer) organisiert wurde. Annähernd dreißig Personen machten sich Ende September auf den Weg und ließen sich zunächst von Kantor Thiemo Janssen die Orgel in Rysum nahebringen. Während über den Erbauer der ältesten spielbaren Orgel Deutschlands wenig bekannt ist, lassen zeitgenössische Quellen deutlich werden, wie die Finanzierung dieses Instruments vorgenommen wurde. Chronist Eggerik Beninga hat hier vermerkt, dass die damaligen Verantwortlichen bereit waren, zehn gut gemästete Kühe („ere vette beeste“) als Bezahlung für das neue Instrument herauszugeben. Die kleine Orgel aus der Renaissance erklingt so nun schon über 500 Jahre mit ihrem dunklen, intensiven Klang im Gottesdienst. Charakteristisch ist dabei die mitteltönige Stimmung, wie Janssen in seinen Hörbeispielen (u.a. „Innsbruck, ich muss dich lassen“ von Heinrich Isaac und einem Tanzstück von Hans Kotter) verdeutlichte. Um 1954 wurde das Instrument von Jürgen Ahrend, dem Pionier auf diesem Gebiet, restauriert und zeigt auch heute noch eine erstaunliche Strahlkraft.
Im Anschluss an die Führung durch die teilweise aus Tuffstein gebaute reformierte Kirche in Rysum stellte Janssen der Gruppe noch den gleichnamigen Ort mit seinen um das Gotteshaus gruppierten niedrigen Häusern vor, bevor es mit dem Bus weiter zu nächsten Station in Uttum ging. Die dortige Kirche stammt aus dem Jahr 1584 und ist somit gut 200 Jahre jünger als das Gotteshaus in Rysum. Wie in reformierten Kirchen häufig anzutreffen, ist auch hier das Gestühl um den Altar und den Taufstein (14. Jhd.) angeordnet. Der Orgelbauer ist nicht namentlich bekannt, er stammte jedoch vermutlich aus der niederländischen Provinz Groningen. Die Orgel zeigt einen farbigeren und kräftigeren Klang als das Instrument in Rysum. Dieser ist besonders gut zur Darstellung der Werke aus der Renaissance geeignet. Wie Janssen erläuterte, deutete sich hier eine klangliche Entwicklung an, die ihren Ursprung in der Reformation hat, als vor allem auf die Begleitung des Gemeindegesanges verstärkt Wert gelegt wurde. Janssen demonstrierte dies mit verschiedenen Stücken von Jan Pieterszoon Sweelinck, Samuel Scheidt und Susanna van Soldt. Die Orgel, deren Trompetenregister besonders hervorsticht, wurde 1956/57 von Jürgen Ahrend restauriert und in der Folge zur „Orgel des Jahres“ gewählt.
Die sich anschließende Mittagspause in der Alten Brauerei in Pilsum bot neben der leckeren Verköstigung ausführlich Gelegenheit zum Austausch über das Erlebte.
Die Kirche in Pilsum, die im Anschluss besucht wurde, zeigt mit ihrem massiven Vierungsturm eine bauliche Besonderheit. Aufgrund der schwierigen Bodenverhältnisse war der Glockenturm schnell instabil und wurde später separat neben die Kirche gebaut. Das lange Gebäude des reformierten Gotteshauses, das in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts grundlegend restauriert wurde, weist neben einer Kanzel und der Bronzetaufe von 1437 wenig Einrichtungsgegenstände auf, zeigt aber eine große Akustik. Die Orgel wurde 1694 von Valentin Ulrich Grotian erbaut. Von den ursprünglich sieben Instrumenten, die von diesem Orgelbauer in der Gegend nachweisbar sind, ist sie die einzige heute erhaltene. Sie besitzt kein Pedalwerk, die Tasten sind angehängt. In den seitlichen Blendflügeln befinden sich Pfeifen-Attrappen. Der Klang der Orgel ist ausgesprochen kräftig und obertonreich, was dem Ideal der Barockzeit entspricht und ihr eine besondere Eignung als Begleitinstrument für den Gemeindegesang verleiht. Die Musik der Zeit wirkt elegant und zeichnet sich durch zahlreiche Verzierungen aus, wie dies u.a. mit Beispielen aus Samuel Scheidts Tabulatura nova und Stücken von Georg Böhm, der zu Bachs Zeiten in Lüneburg wirkte, dargelegt wurde.
Als vierte Station schließlich besuchte die Gruppe die Ludgerikirche in Norden. Auch dieses Gotteshaus besitzt einen separaten Glockenturm. Während das Langschiff der Kirche deutliche Hinweise auf einen Baubeginn in der Romanik gibt, zeigt das Querschiff, das im goldenen Schnitt dazu angeordnet ist, gotische Ursprünge. Die prächtige Orgel wurde von dem berühmten Orgelbauer Arp Schnitger errichtet und stellt dessen zweitgrößtes Werk dar. Auffällig ist die Anordnung des Instrumentes, das auf der Empore vom Chor in das Langschiff hineinragt. Während die beiden Vorgängerorgeln für den Gemeindegesang im Langschiff zu leise waren und daher ausgetauscht werden mussten, scheint die Schnitger-Orgel vom ursprünglichen Standort in die Kirche hinein zu wachsen. Zur Ausstattung gehören neben dem Hauptwerk auch das Rückpositiv und ein Pedalturm. Der Spieltisch unterhalb des Hauptwerkes wurde 1687 fertig, das Oberpositiv 1691/92. Beim Spielen muss der Organist die Klangbalance auf die Zuhörer einstellen, was besonders für Gastorganisten laut Janssen, dem Kantor dieser Kirche, einiger Übung bedarf.
Bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr die Schnitger-Orgel mehrere Restaurierungsversuche. Da sich die Ansprüche an das Instrument durch die Entwicklung der Literatur und des Zeitgeschmacks gewandelt hatten, galt sie lange als nicht mehr spielbar. Mehrere Anläufe zur Aufarbeitung missglückten. Erst in den 70er und 80er Jahren gelang durch umfassende Restaurierungsarbeiten die Herstellung des heutigen Zustandes, der sich nicht zuletzt durch die Übernahme älterer Pfeifen aus Vorgängerinstrumenten, 21 davon original von Schnitger, auszeichnet. Organist Janssen veranschaulichte dies mit Werken von Georg Böhm und Dietrich Buxtehude, wobei der unter anderem am Schluss eingesetzten Cymbelstern die Zuhörer zum Staunen brachte. Abschließend erklärte der Organist den interessierten Besucherinnen und Besuchern noch einzelne Besonderheiten „seiner“ Orgel aus der Nähe.
Die Organisatoren aus Lübbecke und Espelkamp, Heinz-Hermann Grube und Christoph Heuer, bedankten sich herzlich bei Thiemo Janssen für die anschauliche und kenntnisreiche Führung. Nun sind alle schon gespannt, wohin der Weg die Orgelfans aus Ostwestfalen im nächsten Jahr führen wird.
Ina Härtel