Prof. Dr. Karl-Jürgen Kemmelmeyer befasste sich sehr intensiv u.a. mit der Geschichte unserer Orgel. Im Folgenden können Sie seine sehr interessante Kurzfassung lesen. Seine ausführliche Darstellung, die auch die Geschichte der St.-Andreas-Kirche beinhaltet, können Sie sich hier als PDF-Datei herunterladen.
In der ab 1180 entstandenen romanisch-gotischen Hallenkirche befindet
sich heute (2017) hinter einem historischen Barockprospekt ein
Instrument der Orgelbauwerkstatt Gustav Steinmann (Vlotho) aus dem Jahre 1961/62. Es besitzt 25 klingende Stimmen, verteilt auf Hauptwerk, Brustwerk und Pedal.
Das ursprüngliche Orgelwerk, dessen Prospekt weitgehend original erhalten ist, stammt aus dem 17. Jahrhundert.
1960-61 konnte das Gehäuse anhand von alten freigelegten Farbfassungen aus erhaltenen Teilen rekonstruiert werden.
Original sind der Mittelkorpus (für Hauptwerk und Brustwerk) sowie
der obere Teil der Rückwand (für die Abdeckung der Pedalpfeifen) mit den
sechs Gitter-Feldern, die jeweils den brandenburgisch-preußischen Adler
zeigen.
Der norddeutsche Prospekt mit rundem Mittelachsturm und zwei spitzen
äußeren Pfeifentürmen enthält jeweils zwei Flachfelder übereinander, die
die Türme verbinden und im Rankenwerk der Schleierbretter
menschenähnliche Fratzen zeigen.
Die Entstehung des gesamten Orgelwerkes mit Hauptwerk, Brustwerk und
Pedal, das mit geringen Modifikationen und Reparaturen immerhin bis zum
Jahr 1904 seinen Dienst versah, lässt sich trotz derzeit noch
lückenhafter Quellenlage auf den Zeitraum 1628 bis 1655 eingrenzen.
Durch Quellen belegt ist, dass 1628 der Mindener Orgelbaumeister Cord Krüger (Cordt oder Gerd, Gerhard Kröger,
damals verschiedene Schreibweisen) die Lübbecker Orgel gebaut hat. 1642
muss es weitere Arbeiten an der Orgel gegeben haben und für 1655 sind
weitere umfangreiche Arbeiten an der Orgel durch Henrich Krüger
(Hermann Krüger?) aus Nienburg belegt. Der Orgelbau fällt in die Wirren
des Dreißigjährigen Krieges, der auch Lübbecke nicht verschonte.
Lübbecke kam 1648 zusammen mit dem Bistum Minden unter die
Regierungshoheit von Brandenburg-Preußen, worauf auch die preußischen
Adler in der Rückwand des Gehäuses anspielen. Die Orgelbauerfamilie Krüger (Kröger)
unterhielt in den genannten Jahren Werkstätten in Minden und Nienburg.
So kann mit Sicherheit geschlossen werden, dass das Instrument von Cordt Kröger begonnen und durch seine Werkstatt bzw. Familie vollendet wurde.
Die Krögers
Die Orgelbauerfamilie Kröger spielt eine bedeutende Rolle in der
Entwicklung des norddeutschen Orgelbaus. Die verwandtschaftlichen
Beziehungen sind bisher leider noch ungeklärt. Cordt Kröger
baute ab 1635 in der St.-Lamberti-Kirche in Oldenburg die damals größte
Orgel des nordwestdeutschen Küstenraums mit drei Manualen und separaten
Pedaltürmen (nicht erhalten) – ein Instrument, das seinen Ruf
begründete, nach seinem Tod von Hermann (Harm) Kröger 1642 vollendet und in dieser Region erst durch die Orgelgroßbauten von Arp Schnitger übertroffen wurde.
Technologie-Transfer im norddeutschen Orgelbau
Cordt Kröger (*um 1600 = 1641), lernte vermutlich bei den Baders das Orgelbauerhandwerk
sein Meistergeselle: Hermann Kröger
Hermann Kröger (*um ? + 1671)
sein Meistergeselle: Berendt Hus
Berendt Hus (*um 1630 + 1676)
sein Meistergeselle: Arp Schnitger
Arp Schnitger (*1648 + 1719)
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Cordt und Hermann Kröger hatten bereits versucht, bei ihren
Dispositionen ein selbständiges Pedal und die Eigenständigkeit der Werke
(Manuale, Pedal) als Prinzip zu verwirklichen: pro Werk möglichst
Prinzipalchor gegenüber Flötenchor als Klangfarbengruppen zu
disponieren, eine Aufhellung beim Manualwechsel von Hauptwerk über
Rückpositiv hin zum Brustwerk zu erreichen und zusätzlich Aliquoten und
Zungenregister für das Trio-Spiel bereitzustellen. Diese Konzeption
finden wir später in den großen Orgeln Arp Schnitgers in Perfektion realisiert.
Ein erstes großes Instrument des jungen Orgelbaumeisters Cordt Kröger
Etwas von all dem ist bereits in der Konzeption der Lübbecker Orgel
zu spüren, die wohl eines der ersten größeren Werke des nun
selbständigen Meisters Cordt Kröger war. Nach niederländischer
Tradition (von den Baders?) wurde das Pfeifenwerk des Pedals hinter
dekorativen Gittern versteckt. Kröger baute mechanische einfache
Springladen für das Hauptwerk und Pedal und ein Pfeifenwerk aus sehr
dickwandigem Blei. Das Brustwerk der Lübbecker Orgel war als Schleiflade
ausgeführt. Bei der Restaurierung des Gehäuses 1960/61 kamen die alten
Bohrungen für die Registerzüge und die Schilder der Register wieder zum
Vorschein. Das Regierwerk mit den Laden und ein großer Teil der alten
Bleipfeifen waren um 1904 noch vorhanden, wie es der Orgelbauer Ernst Klaßmeier
(Lemgo-Kirchheide) dokumentierte. Die Bauqualität muss sehr gut gewesen
sein, denn das Instrument blieb in seinen Grundzügen bis um 1904 in
Funktion. Von der alten Lübbecker Orgel sind zwei Dispositionen
überliefert. Die Dokumentation des Orgelbauers Schneegass von
1794 wird wohl der alten Cordt-Kröger-Disposition am meisten
entsprechen, wie ein Vergleich mit der Celler Orgel des jüngeren Hermann Kröger zeigt.
Überlieferte Dispositionen der Cordt-Kröger-Orgel 1794:
Die mit der Jahreszahl 1794 versehene Disposition offenbart typische westfälische Dispositionsprinzipien:
- Das Hauptwerk, basiert auf dem Bordun 16‘, zeigt einen vollständigen
Prinzipalchor, der durch eine 2fach Sesquialtera und eine 4fache Mixtur
nach oben hin abgeschlossen wird. Außerdem ist mit Blockflöte 8‘,
Coppelflöte 4‘ und Cornett der Weitchor ebenfalls komplett vorhanden, zu
dem noch die Trompete tritt.
- Das Brustwerk ist basiert auf Gedackt 8‘ und bietet einen kompletten
Prinzipalchor der 4‘-Lage, bekrönt durch die kleine Quinte, ein Sifflet
1‘ und eine (vermutlich) 2fache Zimbel. Dazu tritt noch ein Krummhorn.
- Das Pedal ist mit den Grundstimmen zu 16‘ und 8‘, ergänzt durch die Posaune 16‘ und die Solozunge Cornett 2‘, besetzt.
Vermutlich kam es später zu einem Umbau, vielleicht im Zuge der
großen Reparatur von 1798. Vom Cornett blieb nur der Quintchor, im
Brustwerk wurde Principal gegen Flöte 4‘ getauscht oder umintoniert und
das Sifflet um eine Oktave nach unten gerückt und damit zum 2‘ gemacht.
Das Pedal erhielt statt der 2‘-Zunge eine Oktave 4‘. Diese Veränderungen
tragen den spätbarocken Vorlieben für den galanten Stil Rechnung, der
die Homophonie einerseits und melodiöse Oberstimmen im Flötenton
andererseits betont. Erstaunlich ist, dass das Orgelwerk mit seiner
spätbarocken Disposition, den einfachen Springladen und der kurzen
Oktave bis ins 20. Jahrhundert mit geringfügigen Änderungen überdauerte.
Die Ernst-Klaßmeier-Orgel von 1904
Ernst Klaßmeier (1840-1926) hatte als Geselle bei dem berühmten Friedrich Ladegast
in Weißenfels gearbeitet und um 1872 in Lemgo-Kirchheide als
Orgelbaumeister eine Firma gegründet. Wegen der Registerkanzellen
benötigte er für den Bau eines neuen Orgelwerkes mehr Platz und
erweiterte daher das Gehäuse um zwei zusätzliche Pfeifenfelder. Dabei
verwendete er soweit möglich viele Teile des alten Krögerschen Gehäuses,
das nun dunkelbraun gestrichen wurde. Seiner Sorgfalt verdanken wir den
Erhalt des kostbaren Gehäuses.
Im Jahre 1904 entschloss sich das Prebyterium trotzdem zu einem
völligen Neubau des Orgelwerkes. Hinter dem rechts und links um zwei mit
stummen Pfeifen besetzten Feldern ergänzten historisches Prospekt baute
Ernst Klaßmeier pneumatisch gesteuerte Kegelladen, auf denen
wiederum 21 Register (10-6-5) Platz fanden. Die Disposition, aus dem
Geist der Spätromantik entwickelt, basierte auf einer an Farben
möglichst reichen Grundstimmenpalette, die dynamische Abstufungen
zwischen pp und ff zuließ.
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts veränderten sich die Klang- und
Hörästhetik und die damit verbundenen Anforderungen an das Instrument
grundlegend. Die Musik u. a. von Buxtehude und Bach sollte möglichst mit
einem barocken Orgelklangideal nach den Vorbildern der Orgelbauer Silbermann und Arp Schnitger
wiedergegeben werden – eine Forderung der sog. Orgelbewegung auf ihren
Tagungen 1909 und 1927. Der Zeit der Orgelbewegung der 1920er und 1930er
Jahre folgte nach dem Zweiten Weltkrieg die Phase des Neobarock. Nun
sollten die Orgeln möglichst auch (spiel-)technisch dem entsprechen, was
man zu jener Zeit unter „barock“ verstand.
Vor diesem Hintergrund ist der klangliche Umbau der Orgel in der St. Andreaskirche durch die Firma Förster & Nikolaus (Lich/Hessen)
von 1951 zu sehen. Durch Veränderung von mehreren vorhandenen Registern
u.a. wohl durch Abschneiden und Oktavversetzung der Pfeifen und
Hinzufügung von neuen Registern – vermutlich Scharff, Zink, Sesquialtera
und Liebl. Posaune 16‘ – kam man dem beschriebenen klanglichen
Barockideal vermeintlich näher. Die Klaßmeierschen Kegelladen wurden
belassen. Die Bemerkung des Orgelrevisors Arno Schönstedt in seinem Abnahme-Gutachten vom 6.9.1951, dass Klaßmeiers Kegelladen … außerordentlich große Membranen und Kegel besitzen, die sich bei schnellen Tonwiederholungen nachteilig auswirken
(Quelle AEK Lübbecke: E.-A. Klinker: Geschichte der Orgel in St.
Andreas/Lübbecke, mschr., S.2.), impliziert bereits den Wunsch nach
mechanisch gesteuerten Schleifladen. Als sich 1954, wie es heißt: … an allen Teilen des Orgelwerkes starke Holzwurmschäden offenbaren, ist die Grundlage für einen angestrebten Neubau der Orgel gelegt.
Die Gustav-Steinmann-Orgel von 1961/62
In Zusammenarbeit mit dem Landesdenkmalamt Münster und der Orgelforschungsstelle der Universität Münster (Prof. Dr. Rudolf Reuter)
konnte im Rahmen der Restaurierung des Innenraums der
St.-Andreas-Kirche mit der Rückführung auf den romanischen Zustand auch
das Orgelgehäuse einer genauen Untersuchung mit Freilegung der alten
Farben unterzogen werden: Die von Klaßmeier verwendeten Teile des
Krögerschen Orgelgehäuses ließen aufgrund ihrer Farbfassungen präzise
Rückschlüsse auf die Originalgestalt zu. Nach diesen Befunden erfolgte
die Rekonstruktion bzw. Rückführung auf den Originalzustand um ca. 1650.
Dabei verwendete man rund 70 Prozent des originalen Gehäuses. Später
wurden noch die Brustwerk-Türen mit erhaltenen Skulpturen alter Altäre
der St.-Andreas-Kirche verziert.
1962 konnte der Einbau des heute (2017) bestehende Orgelwerkes – das op. 288 der Firma Gustav Steinmann (Vlotho-Wehrendorf)
– abgeschlossen werden. Es handelte sich um einen kompletten Neubau
nach den damals gängigen Prinzipien des Neobarock. Das Orgelwerk erhielt
mechanisch angesteuerte Schleifladen und mechanisches Registertraktur.
Es erhielt insgesamt 25 klingende Stimmen, verteilt auf Hauptwerk (im
oberen Hauptgehäuse, 9 Register), Brustwerk (zwischen Spieltisch und
Hauptwerk, 8 Register) und ein hinterständiges Pedalwerk (8 Register).
Die Intonation erfolgte ausschließlich am Fuß, bei geringeren
Aufschnitthöhen und offenen Fußlöchern. Die Winddrücke wurden niedrig
gewählt: 58mm WS im Hauptwerk, 50mm im Brustwerk und 60mm im Pedal.
Neben traditionellen Werkstoffen kamen auch zeitgenössische zum Einsatz:
So erhielten die Ventile Schaumstoff und Lederbeläge; die Kondukten
wurden, wie auch die Windkanäle aus Flexrohren angelegt; das Tragewerk
der Orgel wurde, wie seinerzeit üblich, mit ineinander verschraubten
Aluminium-Locheisen erbaut. Die Spieltrakturen bestehen ebenfalls aus
einer Mischung traditioneller und damals experimenteller Materialien.
Die Verbindungen von den Tasten zu den Eisenwellen auf dem Wellenbrett
sind traditionell mit Holzabstrakten bestückt, die Ventilanzüge jedoch
aus Aluminiumdrähten.
Insgesamt wurde das Orgelgehäuse gegenüber dem Zustand der
Klaßmeier-Orgel um einen Meter weiter nach hinten verlegt und in der
Tiefe reduziert, damit auf der Empore mehr Platz für den Chor entstand.
Demzufolge erhielt das Hauptwerk im Gegensatz zu der historischen
Disposition nur noch neun Register. Das Brustwerk weist im aktuellen
Zustand bei den Prinzipalen nur 2‘-Höhe auf; das Gedackt 8‘ ist in der
unteren Oktave horizontal angebracht. In der Disposition von 1794 werden
mit Gedackt 8‘, Prinzipal 4‘ und Krummhorn 8‘ immerhin drei Registern
genannt, die 4‘-Höhen besaßen.
Der Spieltisch ist in der Front angebaut. Das Pedalwerk steht,
geteilt in Großpedal (rechts) und Kleinpedal (links) im hinteren Gehäuse
(Quelle AEK Lübbecke: Abnahmegutachten von A. Schönstedt vom
20. 12.1961 in Abschrift vom 03.01.1962, mschr.). 1987 wurden die
Spieltrakturen der Manuale überholt. 1993 wurde das Werk gereinigt und
nachintoniert. Im Jahre 2010 schließlich wurde das Orgelwerk durch Ralf
Müller (Orgelbau Speith, Rietberg) grundlegend gereinigt; es wurden auch
Reparaturen in der Windversorgung vorgenommen, der Winddruck wurde
erheblich erhöht: Hauptwerk 85mm WS, Pedal 95mm WS. Vor allem die
Posaune 16‘ und die Quintade 16‘ wurden neu intoniert.
Zustand der Orgel heute
Das Orgelwerk befindet sich trotz der erst vor kurzem erfolgten
Reparaturen in einem grundsätzlich nicht zufrieden stellenden Zustand.
Dieser ist durch weitere Maßnahmen an dem bestehenden Instrument nicht
zu verbessern. Die Arbeiten von Ralf Müller sind in diesem
Kontext zu bewerten. Eine klangliche Verbesserung wurde damit erzielt,
nicht aber die orgelbautechnischen und konzeptionellen Schwächen der
Orgel behoben. Diese sind im Wesentlichen begründet durch
- die Wahl nicht dauerhafter Materialien, wie Flexkondukte, Alutrakturen
- die Wahl ungeeigneter Materialien wie das Locheisenständerwerk, das
durch Eigenschwingungen den Orgelklang stört (Vibrationen etc.)
- ein durch die Versetzung der Hauptgehäuses um einen Meter nach
hinten zwar hinzu gewonnenes Platzangebot auf der Empore, zugleich aber
durch den Verlust der Orgel an Gesamttiefe im Untergehäuse die
Inkaufnahme einer sehr engen Aufstellung des Pfeifenwerks
- durch überwiegend sehr enge Mensuren, die den Klang im weiten,
großvolumigen Raum der St.-Andreaskirche nicht tragfähig machen können,
denn bereits nach wenigen Metern Abstand verringert sich die klangliche
Präsenz des Instruments dramatisch
- durch die Disposition des Brustwerkes als 2‘-Werk, das das durch dem
Hauptwerk gegenüber kein klanglichen Pendant bildet, sondern eher als
„Echowerk“ oder vielleicht „eingeschlossene“ Truhenorgel zu bezeichnen
ist
- schließlich durch die Disposition, die weder an die barocke Vorlage
von 1794 konsequent anknüpft, erst recht die romantische Konzeption von
1904 verwirft.
Darüber hinaus bietet das vorhandene Instrument in keiner Weise die
für den Sitz des Kreiskirchenmusikers nötigen Möglichkeiten, die
stilistische Bandbreite der Orgelmusik und des Ensemblemusizierens
auszuschöpfen und eine vielfältige Orgelliteratur lehrend an den
Organisten-Nachwuchs weiterzugeben.